FLANEURGESCHICHTEN
„Et in Roma ego.
Betrete die Ewige Stadt durch die Porta del Popolo
wie einst Goethe auf seiner Italienreise
und vor ihm der 18-jährige Giacomo Casanova
das nahe Caffè Rosati auf der Piazza
wird wieder mein Stammcafè sein
wie schon beim letzten Mal.
Ab dem zweiten Tag wissen die Ober
welche Zeitungen ich lese
welchen Kaffee trinke
dass ich keine Chips und Oliven zum Bier wünsche
dass ich danach schreibe
und in Ruhe gelassen werden will …
Im Rosati also.
Gabriele D’Annunzio, der Dichter, kann sich nicht enthalten
sich zu inszenieren wie ein Schauspieler
den es an die Bühnenrampe drängt
das Rampensäuische ist nicht nur in Wien zuhause.
Ich erzähle ihnen die Geschichte von der Gräfin Glanegg
spricht er laut und mit geschulter Stimme
vorgeblich zu seiner Tischgesellschaft
jedoch so, dass man es im ganzen Lokal hören muss
sie war eine der vornehmsten Damen der Wiener Aristokratie
und vielleicht das schönste Geschöpf
dem ich je auf Erden begegnet bin.
Es gibt ein gemaltes Porträt von ihr
in Walkürenrüstung mit Flügelhelm …
Sie werden Radianas Gesicht nicht wieder vergessen
und werden es sehen, so wie ich es jetzt unverändert sehe
durch die Mauern ihre Hauses in Venedig, am Calle Gambara
so hat sie im Gedächtnis derer bleiben wollen
die sie in ihrem Glanz gekannt haben.
Als sie an einem allzu klaren Morgen gewahr wurde
dass die Zeit des Welkens für sie gekommen war
beschloss sie, von der Welt Abschied zu nehmen
damit die Menschen dem allmählichen Verfall
und schließlich dem gänzlichen Ruin
ihrer berühmten Schönheit nicht zusähen.
Vielleicht hielt sie auch Sympathie für Dinge in Venedig fest
die sich auflösen und dem Untergang geweiht sind.
Sie gab ein prächtiges Abschiedsfest
bei dem sie noch im vollen Glanze ihrer Schönheit erschien
dann zog sie sich für immer in ihr Haus zurück
das Ende erwartend
inmitten des vermauerten Gartens
umgeben nur von ihrer Dienerschaft.
Sie ist eine legendäre Figur geworden
man erzählt, dass sich im ganzen Hause kein Spiegel befinde
und dass sie ihr eigenes Gesicht vergessen habe.
Selbst ihren ergebensten Freunden
ist es strengstens verwehrt, sie zu besuchen.
Wie lebt sie? Was für Gedanken beschäftigen sie?
Mit welchen Künsten betrügt sie die Qual der Erwartung?
D’Annunzio hat seinen Vortrag beendet, erwartet Applaus
und ich will mir dieses Haus an der Calle Gambara ansehen
notiere ich, demnächst in Venedig“
Alfred Zellinger, Flaneurgeschichten
aus der imaginären Metropole Europas
450 Seiten, Edition P.E.N. im Löcker Verlag
29,80; ISBN 978-3-85409-958-1