Eine sehr persönliche Liste der mir liebsten 10 Bücher
des Jahres 2021 – auch wenn 20 daraus wurden:
1. Münkler, Marx, Wagner, Nietzsche
Die 3 zitierten Herren sind gemeinsam europäisches Erbe
entstanden zwischen Revolution 1848, Das Kapital I 1867, Reichsgründung 1871, Ring-Uraufführung 1876
und Zarathustra 1883.
Köstlich, wie diese 3 veritablen Revolutionäre von 1848
– der eine ökonomisch-gesellschaftlich
der andere künstlerisch, der dritte philosophisch – sich entwickeln …
2. Gaspard Koenig, Das Ende des Individuums
Die Künstliche Intelligenz bereitet dem Autor Sorgen
vor allem die kommende „starke KI“
samt ihrem „Deep Learning“ –
die Macht werde auf Algorithmen übergehen …
3. Walter Erhard & Herbert Jaumann (Hg.)
Jahrhundertbücher. Große Theorien von Freud bis Luhmann … sowie Husserl, Oswald Spengler, Wittgenstein, Max Weber, Heidegger, Carl Schmitt, Sartre, Horkheimer, Adorno, de Beauvoir, Levi-Strauss, Lukacs, Foucault, Derrida, Bourdieu, Habermas …
4. Dante, Divina Commedia
im Dante-Jahr wiedergelesen.
Doch sagt, die ihr selig hier euch fühlet
begehrt ihr nicht nach einer höhren Stelle
Um mehr zu schauen und werter Gott zu werden?
Hier erlaubte ich mir, den Meister
unserer Zeit geschuldet, neu zu interpretieren:
„Begehrt ihr nicht nach einer höhren Stelle
um mehr zu schauen und mehr WIE Gott zu werden?“.
Dazu ein Wort aus meinem Faust
DOKTOR FAUSTUS IN LONDON, Wien 2017
„Der Mensch ist seiner Göttlichkeit /
heut schon viel näher als zu Faustens Zeit“
5. Ein erst jetzt freigegebenes Manuskript
der Simone de Beauvoir: Die Unzertrennlichen.
Die junge Autorin und ihre Freundin
rebellieren gegen den Tugendterror ihrer Zeit …
6. Konrad Paul Liessman, Alle Lust will Ewigkeit
Zarathustras Mitternachtslied „O Mensch! Gib acht!“
zwischen den 12 Schlägen einer Turmuhr
7. Stuart Jeffries, Grand Hotel Abgrund
Guter Name für diese Bande brillant schreibender Herren
in Frankfurt und New York:
Horkheimer, Adorno, Habermas, Marcuse, Benjamin …
Professoren, großbürgerlich, gebildet und elitär
die alles erklären können – aber nichts ändern.
Oder, wie der Autor zugesteht:
„Für die Kritische Theorie / braucht man heute Ironie“.
8. Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie
Interessant seine „Achsenzeiten“ im 1. Band
und seine „Vernünftige Freiheit“ im 2.
beginnend vielversprechend mit der
„Trennung von Glauben und Wissen“.
Und zuletzt stoße ich auf den Satz:
Der Philosoph ist der Liebling der Götter,
weil er wie diese in Muße
ein in sich zentriertes, auf andere nicht angewiesenes
autarkes Leben führt“. Ich mag Aristoteles.
9. Byung-Chul Hahn, Infokratie
Es kommt heute darauf an, sich in seinen Konsum- und Interessensdaten, die man im Besitz fremder Algorithmen weiß
zu bewegen wie der Fisch im Wasser …
und die Wahrheit verliert sich „im Rauschen der Information.
10. Yuval Noah Harari, HOMO DEUS
erstmals 2018 und jetzt wieder gelesen.
ein inspirierendes Buch über eine schöne neue Welt.
insbes. frage ich mich nach den nächsten Zielen
einer stets strebenden Menschheit:
Unsterblichkeit und damit Göttlichkeit?
Der Homo Sapiens soll Homo Deus zu werden.
Das ahnt schon Nietzsches Zarathustra:
„Der Mensch ist ein Seil, gespannt zum Übermenschen“.
11. James Joyce, Finnegans Wake
ein Buch, dem ich in meiner Bibliothek
einen eigenen Tisch gewidmet habe
weil ich schon länger daran lese
als Joyce daran geschrieben hat: 17 Jahre!
12. Das Gilgamesch-Epos
die älteste Geschichte der Welt
ninivitische Version, in der Übersetzung von Raoul Schrott
über den ehrgeizigen König von Uruk
der die Unsterblichkeit sucht.
Geschichten mit geradezu archaischer Wucht …
„Er, der den umkreis der erde sah, land um land,
er, dem sich der tiefste grund aller dinge offenbarte,
er, der die geheimnisse entdeckte und die mysterien erfuhr,
er brachte eine legende zurück aus der zeit vor der Sintflut …“
Mit weitgehend rekonstruierter 12. Tafel.
13. Franz Schuh, Lachen und Sterben.
Kapitel 1 beginnt schon gut: Tot in Wien.
Nein, bin vor Lachen nicht gestorben
war aber nahe dran.
14. Wednesday Martin, Die Primaten von der Park Avenue
Auch an dieses Buch erinnerte ich mich:
Eine Anthropologin schreibt über ihr Leben
unter den Frauen der New Yorker Oberklasse
in der Upper East Side.
Amüsante und beachtliche Anmerkung amerikanischer Soziologie
zu den – europäischen – Standardwerken:
Veblens Theory of the Leisure Class
und Pierre Bourdieus La Distinction.
15. Palaiphatos, Europa und Herr Stier
Wahrheit über die griechischen Mythen
Die witzige Interpretation griechischer Göttergeschichten
durch einen Ungläubigen, von der Art:
Die Königstochter Europa hat nicht Zeus
in Gestalt eines Stiers entführt
sondern ein Herr Stier …
Am besten parallel zu Ovids Metamorphosen lesen.
Die sind insgesamt amüsanter.
Und auch von Reclam geschrieben.
16. Zu Foucaults zentralem Werk „Sexualität & Wahrheit“:
aus dessen 3. Band „Die Sorge um sich“ ich oft zitiere
ist nun, sehr posthum, ein 4. Band erschienen:
Die Geständnisse des Fleisches.
17.
Voltaire, Philosophisches Taschenwörterbuch
erstmals vollständig übersetzt:
seine Kampfansage an Dummheit, Borniertheit,
Fanatismus, Intoleranz und an die Religion.
Ein Grundtext der Aufklärung
daher 1765 in Paris erstmal öffentlich verbrannt.
Nach seinen zweifelnden Worten über eine „Seele“ der Tiere
ist man in der Lage, auf die Frage
„Haben Tiere eine Seele wie wir Menschen?“
so spontan wie schlicht zu antworten:
„ Haben denn Menschen eine?“
18. Christian Reder, Mediterrane Urbanität.
Perioden vitaler Vielfalt als Grundlagen Europas
Ein gedankenreicher und faktenreicher Parforceritt
durch Europas Geschichte
anhand seiner legendären mediterranen Hafenstädte
eine Hymne an die Vermengung
sich gegenseitig bereichernder Völker
aus der Europas Zivilisation entstand.
Gerade Europa, argumentiert Reder,
sei durch Freizügigkeit und Migration entstanden.
19. Bernd Stiegler, Reisender Stillstand
2010 veröffentlicht; das Buch für den 10. Lockdown:
Ein kleine Geschichte des Reisens im und um das Zimmer herum.
Das eigene Zimmer betreten als wäre es das erste Mal
sich von allem zunächst ironisch distanzieren
all das entdecken, was schon entdeckt worden ist …
Es ist Zeit! Lichten wir den Anker!
20. Madelin Miller, Ich bin Circe
Miller ist Amerikanerin, Latinistin, Graezistin, Professorin
und schreibt amüsante Romane über antike Mythen
– für mich Geschichten eines entstehenden Abendlandes.
Circe, Tochter des Gottes Hermes und einer Nymphe
die sich mehr für Menschen interessiert
als für ihre intrigante Götterfamilie
mit der sie noch eine Rechnung offen hat
entwickelt ihre Hexenkünste
verwandelt ihre böse Cousine in das Ungeheuer Scilla
wird auf die einsame Insel Aiaia verbannt
heute Cap Circeo genannt
hofft auf vorüberkommende Schiffe
deren Besatzungen sie aber zu vergewaltigen versuchen
– so gewöhnt sie sich an
diese in Schweine zu verwandeln.
Alles in allem ein gutes Jahr!
Achja, und zu vielen dieser Geschichten und Autoren
habe ich in meinem Europa-Buch geschrieben:
„Flaneurgeschichten aus der imaginären Metropole Europas“